Warum wir Hochschulen in unserer Stadt brauchen: Exzellenz zieht Exzellenz an

Hochschulstandort Herne: Wie wichtig sind akademische Einrichtungen für die Zukunft unserer Stadt? Werden sie im großen Stil neue Jobs schaffen und zentrale Fragen lösen können? Im Ruhrwerk-Interview mit der Herner Journalistin Susanne Schübel erklärt Prof. Dr.-Ing. Michael Schugt, Leiter des Instituts für Elektromobilität an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Bochum, warum das Ruhrgebiet kein „Silicon Valley“ ist und Industrialisierung trotzdem ein Standortvorteil.

Herr Prof. Dr. Schugt, warum engagieren Sie sich für den Verein Ruhrwerk?
Prof. Dr.-Ing. Michael Schugt: Hochschulen allein schaffen keine Zukunft. Was wir brauchen, das sind Menschen, die sich um Menschen kümmern, ganz besonders um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, die Weichensteller von morgen. Dafür tritt Ruhrwerk ein und geht bei seinen Projekten bewusst neue Wege. Damit Zukunft gelingt, müssen Menschen befähigt und ermutigt werden, auf allen Ebenen an den Schaltstellen der Gesellschaft mitzutun. In dieser Frage sehe ich eine große Übereinstimmung mit der Arbeit von Ruhrwerk, deshalb engagiere ich mich gerne hier.

Werden wir durch Elektromobilität möglichst viele Arbeitsplätze im Ruhrgebiet schaffen? Wie kann es gelingen, dass auch das Ruhrgebiet an dieser neuen Technologie partizipiert?
Schugt: Über dieses Thema machen wir uns an der Hochschule, aber auch in den Unternehmen viele Gedanken. Wir sagen: Elektromobilität kann nur funktionieren, wenn die Menschen sie akzeptieren. Wichtig ist, dass wir die Produkte, die wir kaufen und nutzen, auch selbst herstellen und damit ein Teil der Wertschöpfungskette werden. In dieser Frage bietet die Elektromobilität eine große Chance. Auch wenn die Technologie nicht mehr ganz so neu ist, sind trotzdem die Wertschöpfungs- und Produktionsketten noch nicht komplett ausgebildet. Wir können ständig neue Dinge entwerfen – neue Fahrzeuge, neue Komponenten. Diese Aufgaben können wir gemeinsam mit den Menschen im Ruhrgebiet meistern. Wir haben die Chance, uns abzusetzen von anderen Regionen, indem wir auf neue Technologien eingehen und offen für sie sind. An diesem Punkt müssen wir ansetzen.

Die RuhrWerk Gala findet bei Cenntro Automotive in Wanne-Eickel statt. Wir feiern in einer Fertigungshalle für elektrische Nutzfahrzeuge der neuesten Generation. Was verbindet Sie mit diesem Standort?
Schugt: Sehr viel. Ich war daran beteiligt, 2009 an der Hochschule Bochum die deutschlandweit erste Professur für Elektromobilität einzurichten. In der Folge entstand die Firma Antric mit dem innovativen Cargo Bike Antric One. Dieses ist ein gutes Beispiel für ein völlig neues Mikromobilitätskonzept für Lasten und Transport auf der berühmten “Letzten Meile”. Bei Cenntro Automotive können wir mit eigenen Augen sehen, dass sich in der Elektromobilität völlig neue Fahrzeugkonzepte umsetzen lassen. Sie werden eben nicht in riesengroßen Fabriken gefertigt, wie wir das bisher aus der Massenproduktion kennen, sondern in deutlich kleineren Stückzahlen. Das ist eine große Chance für Produktionsplätze in einer Stadt wie Herne. Und der nächste Schritt sind ganz neue Fahrzeugklassen wie das Cargo Bike Antric One, die die letzte Meile deutlich nachhaltiger beliefern als zum Beispiel Dieselfahrzeuge. Sie sind für die Straßen weniger belastend und können sogar auf Radwegen fahren.

Wir werden auf der Gala viel von Antric hören, einem jungen Unternehmen. Was verbirgt sich dahinter?
Schugt: Antric ist ein Unternehmen, das sich aus der Hochschule Bochum ausgegründet hat. Bereits während ihrer Studienzeit haben sich die Gründer mit nachhaltiger Mobilität beschäftigt. Damals stand nicht so sehr der Antrieb dahinter, ein eigenes Unternehmen zu gründen, sondern die Frage: Wie können wir den Lieferverkehr nachhaltig verbessern? Die beiden Gründer haben sich in der sehr frühen Phase bereits Gedanken darüber gemacht, welche Infrastruktur bei ständig steigendem Lieferaufkommen genutzt werden kann, ohne das Umfeld noch starker zu stören. So kamen sie darauf, ein professionelles Mikro-Lieferfahrzeug zu bauen, das viel mehr ist als ein Lastenfahrrad. Dieses Cargo Bike ist in der Lage, auf der letzten Meile das Paket zum Kunden zu bringen, ohne seinem Umfeld noch größere Belastungen zuzumuten. Welche Bedeutung dieser Entwicklung beigemessen wird, belegt die Tatsache, dass das auf elektrische Nutzfahrzeuge spezialisierte Unternehmen Cenntro aus China, die Konzernmutter der Cenntro Automotive in Herne, mit einem Investment von 2,5 Millionen Euro bei der Bochumer Antric eingestiegen ist und 25 Prozent der Anteile übernommen hat.

Was ist das Besondere am Antric Cargo Bike?
Schugt: Das Fahrzeug ist sehr nachhaltig gebaut mit einer sehr leichten Karosserie – ganz ähnlich wie ein Pedelec. Mit verschiedenen Aufbauten ist das Antric One für Lieferdienste und den Transport von Stückgut zugeschnitten. Das Ladevolumen wird mit 2,3 Kubikmetern und die Nutzlast mit bis zu 300 Kilogramm angegeben. Um das Gewicht niedrig zu halten, ist die Fahrerkabine nur mit einem speziellen Stoff bespannt. Mit der Kombination aus dem Ladesystem, dem vollgefederten Fahrwerk und der robusten, wartungsarmen Bauweise ist das Cargo Bike optimal für die Anforderungen der Citylogistik gerüstet. Betrieben wird es durch die Muskelkraft des Fahrers, der wiederum elektrische Unterstützung erhält. Deshalb kann das Antric Cargo Bike auch ohne Führerschein gefahren werden.

Bei der Antric hat es geklappt, wie aber machen Sie anderen Studenten Lust auf Gründertum?
Schugt: 2009 haben wir uns an der Hochschule Bochum entschlossen, das Institut für Elektromobilität zu gründen, weil wir darin eine sehr große Chance sahen. Damals war die gesellschaftliche Meinung noch so, dass niemand Elektromobilität wirklich wollte. Uns war aber klar, dass wir heute junge Leute ausbilden müssen für die Technologien, die in 20 oder 30 Jahren einmal sehr wichtig werden. Deshalb haben wir keinen neuen Lehrstuhl für Verbrennungsmotoren aufgemacht, sondern die deutschlandweit erste Professur für Elektromobilität. Und weil wir eine Hochschule für angewandte Wissenschaften sind, haben wir das Thema Unternehmensgründungen immer gleich mitgedacht. Es geht uns grundsätzlich darum, ein Innovationsökosystem zu entwickeln. Das bedeutet: Wir bilden junge Menschen in Technologien aus, die neu sind. Wir schaffen zugleich die Voraussetzungen dafür, dass sich Startups auf Basis dieser Technologien gründen und Erfolg haben können. In den allermeisten Fällen werden Startups am Standort der Hochschule gegründet und bleiben dort. Das macht sie so wichtig für die Stadt selbst und für die Hochschule. Diese Nähe erleichtert es den Unternehmen, später mit neuen Fragenstellungen erneut auf die Hochschule zuzukommen. Die Unternehmer geben uns neue Aufgaben, auf die wir in der Hochschule neue Antworten finden, die in die Unternehmen zurückfließen oder sich in neuen Startups niederschlagen. So bleiben wir immer auf der Höhe der Zeit, und es entsteht ein Kreislauf ständiger Erneuerung: das Innovationsökosystem.

Wie groß ist die Bereitschaft Studierender, sich unternehmerisch zu betätigen?
Schugt: Die wenigsten Studierenden kommen an eine Hochschule, um ein Unternehmen zu gründen. Die meisten wollen einen qualifizierten Abschluss machen und später angestellt erfolgreich tätig sein. Weil sie das Unternehmertum nicht auf dem Schirm haben, haben wir in unseren Vorlesungen ständig versucht, ihnen durch Best Practice Beispiele neue Perspektiven zu eröffnen. Wir bringen Unternehmer aus unseren Fachbereichen an die Hochschule und lassen sie erzählen, was sie erreicht haben. Wir leben vor, dass Unternehmersein ein alternativer, lohnender Lebensweg sein kann. Das gilt auch für mich persönlich: Neben meiner Tätigkeit an der HAW Bochum bin ich seit 2017 Prokurist der Keysight Technologies Deutschland GmbH sowie Technologie Direktor für Electro Vehicle & Batterie Manufacturing Lösungen im Bereich Automotive & Energy Solutions. Vorher war ich 16 Jahre lang als geschäftsführender Gesellschafter der Scienlab Electronic Systems GmbH tätig. Wenn wir wollen, dass sich unsere Studierenden unternehmerisch auf den Weg machen, müssen wir ihnen diese Haltung auch persönlich vorleben.

Woher kommt bei den Studierenden die Zurückhaltung beim Gründen? Wie machen es die anderen?
Schugt: Wir waren im Ruhrgebiet viel zu lange auf die Technologien rund um Kohle und Stahl fixiert. In den USA zum Beispiel ist das etwas ganz anderes. Dort wird immer genau die Technologie bearbeitet, die neu und spannend ist. Nur so konnte aus einer Region, die sich in den 1950er Jahren hauptsächlich mit der Produktion, Erforschung und Nutzbarmachung von Silikon für die Halbleiterproduktion befasste, das heutige Silicon Valley werden mit Unternehmen wie Apple, Google, Facebook und Tesla, die die Welt verändern. Was dort vor mehr als 70 Jahren mit acht Menschen begann, hat sich schneeballartig weiterentwickelt zu einer der am stärksten prosperierenden Regionen der Welt. Der Motor des Wandels und der Wissenschaft war und ist die Stanford University. Dort studieren Menschen mit enormem Pioniergeist, sie liefert Impulse für die Unternehmen und die Wirtschaft von morgen. Das ist gemeint, wenn man von “Silicon Valley” spricht. Diesen Begriff kann man nicht einfach übertragen, auch nicht auf Deutschland.

Das heutige Silicon Valley war ein altes Flugfeld in Kalifornien. Dort gab es Obstplantagen und grüne Wiesen. Das Ruhrgebiet jedoch blickt auf eine jahrhundertealte Industrialisierung zurück. Wie kann hier ein solcher Bewusstseinswandel gelingen?
Schugt: Das Ruhrgebiet weiß, wie Industrialisierung geht. Das ist unser riesengroßer Standortvorteil. Wir brauchen nur eine tragende Idee, die industrialisiert werden muss. Dann haben wir alle Möglichkeiten, mit dieser Idee im Ruhrgebiet erfolgreich zu sein. Elektromobilität kann diese Idee sein. Sie gibt uns die Chance, es besser zu machen. Den ersten wichtigen Schritt haben wir 2016 getan. Als die drei Hochschulen für angewandte Wissenschaften – Gelsenkirchen, Bochum und Dortmund – den Standort für eine neue Zentrale suchten, haben wir uns für die Mitte entschieden, – also für Herne. Wie richtig das war, zeigt die Entscheidung von Cenntro Automotive – früher Tropos, die Produktionsstätte für elektrische Nutzfahrzeuge ebenfalls in Herne zu platzieren. In einem dritten Schritt werden wir in Herne die Studiengänge Energieversorgung und Mobilität in einem “Applied Excellence Department” zusammenfassen. Aufgabe des Departments ist es, “postfossile vernetzte Energie- und Mobilitätslösungen für Metropolregionen” zu entwickeln.

Was bedeutet das konkret für unsere Stadt?
Schugt: Im “Applied Excellence Department” wird einmal auf hohem Niveau studiert, gelernt und geforscht werden. Derzeit legen alle Beteiligten die Grundlagen für einen guten Start. Angesiedelt sind die ersten Büros in einer Immobilie der Stadtwerke Herne, direkt neben dem Kino. Unter einem Dach wird die Expertise der drei Hochschulen gebündelt, um zukunftsgerichtete, wissenschaftliche Lösungen für die zukünftige Energieversorgung und Mobilität nicht nur in unserer Region zu entwickeln. Das Land NRW fördert die Einrichtung, die eng mit Partnern aus der regionalen Wirtschaft zusammenarbeiten wird, bis 2025 mit zwölf Millionen Euro. In der Endausbaustufe werden zwölf zusätzliche Professuren in Herne eingerichtet sein, die von 24 wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt werden.

Das hört sich für Nicht-Akademiker alles so theoretisch an. Welche Vorteile hat Herne durch das Excellence Department?
Schugt: Ja, das kann ich verstehen. Die Sprache der Hochschulen ist oft sehr abstrakt. Dass diese Einrichtung nach Herne gekommen ist, ist sehr, sehr gut für unsere Stadt, denn Herne hat noch keine Hochschule und damit auch keine Chance, ein Innovationsökosystem zu etablieren. Der Start hat wegen Corona ein bisschen länger gedauert. Jetzt brauchen wir noch ein, zwei Jahre Zeit, bis es richtig losgehen kann. Durch das Department holen wir die angewandten Wissenschaften ein Stück weit nach Herne, ohne dass wir in Herne eine eigene Hochschule aufbauen müssen. Wir werden uns damit beschäftigen, wie wir Energieversorgung und Mobilität vernetzen können. Das müssen wir unbedingt zusammenkriegen, denn Elektromobilität ohne Energieversorgung geht nicht. Gleichzeitig muss die Dekarbonisierung gelingen. Ohne Digitalisierung werden wir das wiederum nicht hinbekommen. Wenn wir es aber richtig machen und Best Practice vorleben, ist das für Herne eine Riesenchance. Dann kommen auch die Entrepreneure – die Gründer, die Unternehmen aufbauen und Zukunftsjobs schaffen. Diese Vorbilder sollten möglichst nicht allzu alt sein, am besten um 25 Jahre. Gute Beispiele sind im Umfeld längst vorhanden, zum Beispiel die Firma Voltavision mit dem größten Prüflabor für Elektromobilität in Deutschland, angesiedelt im Grenzgebiet zwischen Bochum Herne. Voltavision ist gerade dabei, nach Herne zu expandieren. Es muss uns gelingen, mehr und mehr solche Vorbilder in unsere Stadt zu holen. Mit diesen Vorbildern können wir wieder in die Schulen gehen und junge Menschen für unsere Studienfächer begeistern. Wir können die Innovation über Bachelor-, Master- oder Doktorarbeiten weiter befeuern und auf diese Weise das Innovationsökosystem in Bewegung halten.

Die Keimzelle des neuen Applied Excellence Department liegt in den Stadtwerke-Büros. Dort wird das Department aber nicht dauerhaft bleiben. Wo wird die Einrichtung einmal ihren Platz finden?
Schugt: Wo letztlich der Beton hingegossen wird, ist fast egal. Fest steht aber: Exzellenz zieht Exzellenz an. Das haben wir im Silicon Valley beobachten können. Wenn die Keimzelle da ist, zieht sie Menschen beinahe magisch an, die verändern und gestalten wollen. Wichtig ist, dass die zukünftigen Gebäude für Forschung und Lehre in einer ansprechenden, schönen Umgebung stehen und dass die Ausstattung modern und inspirierend ist. Ich bin sicher, Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda hat schon einen geeigneten Platz im Hinterkopf. Ich könnte mir vorstellen, dass das Gelände von General Blumenthal gute Chancen als Standort hat.

Welche Dimension wird das Department einmal annehmen?
Schugt: Für Herne wird es eine Erfolgsgeschichte werden, davon bin ich überzeugt. In der Endausbaustufe werden zwölf Professorinnen und Professoren in Herne forschen und lehren, das ist eine beachtliche Personaldecke. Wenn sich zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler plus Stab mit Energie, Mobilität und ihrer Vernetzung befassen, dann ist das wirklich richtig viel. Unterstützt werden sie von etwa 24 Mitarbeitenden. Außerdem beschäftigt jeder Lehrstuhl bis zu vier wissenschaftliche Hilfskräfte. Das sind allein schon 84 Personen. Ich gehe davon aus, dass jeder Lehrstuhl rund 50 Studierende betreuen wird. Damit liegen wir schon fast bei 700 Menschen, die dort an der Zukunft arbeiten werden. Hinzu kommt die Zentrale der drei Hochschulen für angewandte Lehre, die sich für den gemeinsamen Standort Herne entschieden haben. Ein weiterer Meilenstein ist die Entscheidung, die neue Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Herne anzusiedeln – mit Platz für weitere 5.000 Studierende. Und wir haben einen Oberbürgermeister, der vom ersten Moment an unbeirrt und mit Rieseneinsatz für diese Entwicklung gekämpft und immer gesagt hat: Wir machen das in Herne! Alles zusammengenommen zeigt, dass wir den Standort Herne noch viel weiter denken müssen als wir es heute ahnen.

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