Für bessere Bildungschancen in Herne: Hoffnung auf den „großen Switch“

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Der zweite Pisaschock, die rote Laterne für Hernes Schulen bei der Digitalisierung und Millionenlöcher im kommunalen Haushalt: keine guten Nachrichten zum Jahresende für Andreas Merkendorf (Foto oben), seit 2021 Beigeordneter für Schule und Weiterbildung, Kultur und Sport, in Herne. Mitte Dezember kam der Fachbereich Integration hinzu. Die Lage ist so ernst wie selten zuvor, von Resignation und Frust jedoch ist bei dem 46-jährigen nichts zu spüren. Im Gegenteil: Merkendorf brennt für das Thema – auch noch nach 20 Jahren „im Job“. Über Stolpersteine und Gelingensfaktoren für den „großen Switch“ im Bildungssystem sprachen die Journalistin Susanne Schübel und die Ruhrwerk-Gründerin Cordula Klinger-Bischof (CKB), mit dem Herner Bildungsdezernenten Andreas Merkendorf.

Ruhrwerk: Kein Tag ohne negative Schlagzeilen zu Schule und Bildung: Was fasziniert Sie an diesen Themen?

Andreas Merkendorf (AM):  Deutschland ist ein ressourcenarmes Land. Wir haben nur die Bildung, um etwas zu bewegen. Ohne Bildung können wir unsere gesellschaftlichen Systeme nicht bedienen und weiterentwickeln. Dazu brauchen wir motivierte und schlaue Menschen, die unsere Demokratie tragen, die arbeiten und Steuern zahlen. Dieses Wissen motiviert mich, an der Gestaltung von Bildung mitzuwirken – gerade in einer Stadt wie Herne. Hier muss und kann man eine Menge tun. Frustrierend ist, dass so viele gute Ideen am fehlenden Geld scheitern. Unsere kommunalen Kassen sind leer. Daran gibt es nichts zu rütteln.

Ruhrwerk: Es ist kurz vor Weihnachten. Was haben Sie als Dezernent für Schule, Weiterbildung und Integration auf Ihren Wunschzettel geschrieben?

Andreas Merkendorf (AM):  Wir brauchen eine gebührenfreie Kindergartenpflicht, damit die Kinder so früh wie möglich Struktur und Sprache lernen. Wir wissen: Wenn Kinder mit Migrationshintergrund ein oder zwei Jahre lang im Kindergarten waren, haben sie deutlich weniger Sprachschwierigkeiten. Durch die Grundschuleinzugsuntersuchung wissen wir sehr genau, wieviele Kinder ohne ausreichende Sprachkenntnisse in die Schule kommen werden. Außerdem wäre es an der Zeit, wieder flächendeckend Schulkindergärten einzuführen. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich bin davon überzeugt, dass dann der Einstieg ins Schulsystem für viele Schulanfänger wesentlich besser gelingen würde. Wir brauchen einen gebundenen Ganztag für alle – mit gesundem Frühstück und gesundem Mittagessen. Wir brauchen Schulsozialarbeiter, mehr Lehrer im System, mehr Schulen. Wir müssen die Eltern erreichen und ihnen erklären, wie wichtig Bildung ist. Dann könnten wir hier im Ruhrgebiet eine Menge bewegen. Stattdessen sehe ich vielerorts ein Herumdoktern, mal hier, mal da. Aber niemand stellt die Grundsatzfrage. Hier wird sich erst etwas ändern, wenn wir den Hebel komplett herumreißen.

Ruhrwerk: Schule und Bildung ist Ländersache. Kann eine Kommune wie Herne überhaupt etwas bewegen?

Andreas Merkendorf (AM):  Wir sind gerade dabei, die Bildungsprobleme auf kommunaler Ebene exakt und ehrlich zu beschreiben. Aus diesen Fakten leiten wir Forderungen ab. Ein Beispiel: In Zukunft darf keine Grundschule in Herne mehr vierzügig gebaut werden. Der Zuzug seit 2015 ist so groß, dass alle Schulentwicklungspläne nicht mehr stimmen. Wir haben aktuell etwa 19.000 Kinder in Herne, jedes zweite davon hat Migrationshintergrund. Diese Kinder sind unglaublich wissbegierig, das ist eine Riesenchance für unsere Stadt. Wir müssen sie schlau machen, das ist alternativlos. Um diese Talente zu heben, brauchen wir völlig andere Ressourcen. Wir brauchen kleine Einheiten, wir brauchen mehr Grundschulen, wir brauchen mehr Klassen im weiterführenden System. Wir als Kommune könnten eine Menge tun. Wir müssten schneller bauen und schneller erweitern. Es fehlt nicht an Ideen. Es fehlt nicht am Willen. Es fehlt leider – wie immer heute – am Geld.

Ruhrwerk: Ist Bildungserfolg von der Klassengröße abhängig?

Andreas Merkendorf (AM):  Viele Bildungsstudien sagen, die Klassengröße habe nichts mit dem Schulerfolg zu tun. Das sehe ich völlig anders. So wie sich die Schülerschaft in unserer Stadt zusammensetzt, hat die Klassengröße sehr wohl etwas mit dem Schulerfolg zu tun. Es ist heute doch schon ein Erfolg, wenn der Tag einigermaßen ruhig verläuft. So kann es nicht weitergehen. Das Land NRW muss sich kümmern und mehr Lehrerinnen und Lehrer ins System einbringen.

Ruhrwerk: In Herne fehlen Lehrer an allen Schulformen. Gibt es dazu Statistiken?

Andreas Merkendorf (AM):  Leider nein. Als Schulträger sind wir nicht für die Lehrerinnen und Lehrer zuständig, sondern die Bezirksregierung in Arnsberg. Man teilt uns von dort nicht mit, wie hoch die Krankenstände sind und wieviele Stellen aktuell unbesetzt bleiben. Weil wir das Ohr an unseren Schulen haben, wissen wir aber: Dort, wo sie am dringendsten benötigt werden, ist der Lehrermangel extrem: an den Grundschulen. In ganz NRW fehlen 10.000 Lehrerinnen und Lehrer, in Deutschland 20.000. Das zeigt: Lehrermangel ist kein bundesweites Problem, sondern ein NRW-Problem mit dem Schwerpunkt Ruhrgebiet. Bayern hat keinen Lehrermangel. Nach dem Studium zieht es die jungen Menschen nach Bonn, Aachen oder Münster. Das Ruhrgebiet haben sie gar nicht auf dem Schirm. Es ist ein Desaster, dass niemand dorthin möchte, wo er besonders dringend gebraucht wird. Da helfen auch Anreizsysteme nichts. Wenn wir attraktiven Schulraum und kleine Klassen hätten, dann ist es egal, in welcher Stadt die Schule steht. Wir haben aber im Ruhrgebiet Klassengrößen, die im Durchschnitt bis zu fünf Schülerinnen und Schüler mehr haben als zum Beispiel in Münster. Hinzu kommt die besondere Zusammensetzung der Schülerschaft. Das hat großen Einfluss auf die pädagogische Arbeit, Wenn sich da nicht bald etwas ändert, fürchte ich, dass unsere Region über kurz oder lang auf der Strecke bleibt.

Ruhrwerk: Bei der Regierungsbildung von CDU und Grünen in NRW fand sich lange Zeit niemand für das Bildungsministerium. Wie erklären Sie sich das?

Andreas Merkendorf (AM):  Eigentlich ist Bildung ganz einfach: Ich habe ein Kind, behandle es gut, lese vor, gehe mit ihm zum Sport und kümmere mich. Von Schicksalsschlägen mal abgesehen kommt dabei in der Regel etwas Gutes heraus. In Deutschland haben wir jedoch das fatale Talent, alles überkomplex regeln zu wollen. Wir entwickeln viele verschiedene Bausteine. Dadurch wird das System überkomplex, und niemand traut sich, den Knoten durchzuschlagen. Das finde ich frustrierend. Die Parteien wiederum haben Angst, das Bildungsministerium zu besetzen. Sie wissen, das System ist so komplex, da können wir nur verlieren. Ich habe in den vergangenen 20 Jahren viele Ministerinnen und Minister erlebt, die gute Ideen hatten. Aber die politischen Mehrheiten hinter sich zu versammeln, um das große Rad zu drehen, haben sie nicht geschafft. Es gibt kaum einen Politikbereich, der so anstrengend ist, weil man es mit so vielen Akteuren zu tun hat. Mit den Lehrern muss man umgehen, mit den Eltern, mit der Kommunalpolitik. Alles ist im Brennglas, keiner traut sich ran. Die Folge ist: Auf dem Weg zum großen Switch befinden wir uns noch am Nullpunkt. In der politischen Diskussion spielen Ganztag und Kindergartenpflicht keine Rolle.

Ruhrwerk: Wir haben viel Kritik gehört, gibt es denn auch gute Beispiele? Welche Länder machen es besser?

Andreas Merkendorf (AM):  Auf der Welt sind alle Länder in Bildungsfragen erfolgreich, die für sich festgelegt haben, was ihnen Bildung wert ist. In Deutschland diskutieren wir seit Jahren das Zwei-Prozent-Ziel bei Ausgaben für die Bundeswehr. Das ist gut und richtig. Wir brauchen aber dringend auch ein Zwei- oder Drei- oder Vier-Prozent-Ziel für Bildung. Ich plädiere für ein Sondervermögen Bildung, ausgestattet mit möglichst vielen Milliarden Euro. Damit könnten wir eine Kindergartenpflicht einführen, flächendeckend Schulen bauen, eine Lehreroffensive starten und den Switch zum gebundenen Ganztag hinbekommen. Aktuell hangeln wir uns von Förderprogramm zu Förderprogramm. In Deutschland hat sich der Stadtstaat Hamburg mit einem Zwei-Säulen-Modell auf den Weg gemacht. Dort gibt es nur noch Stadtteilschulen und Gymnasien. Alle anderen Schulformen wurden abgeschafft. An beiden Schulformen kann man Abitur machen. Alle Ressourcen werden in die Stadtteilschulen gesteckt, was eine viel bessere Ressourcensteuerung zur Folge hat. Hamburg ist eines der Länder, das ähnlich ausgestattet ist wie NRW. Wenn man sich aber die Bildungsdaten anschaut, erzielt Hamburg die meisten Erfolge, zum Beispiel gemessen n der Zahl der Bildungsgangwechsler oder der Jugendlichen ohne Schulabschluss. In Hamburg hat man strukturell gedacht und gehandelt, in NRW spielt das keine Rolle. Hier haben wir aktuell fünf oder sechs verschiedene Schultypen. Da verliert man schnell den Überblick.

Ruhrwerk: Wo sehen Sie in Herne gute Ansätze?

Andreas Merkendorf (AM):  Vielen Kindern, die bei uns sind, geht es nicht gut. Wir dürfen sie nicht auch noch in Systeme stecken, die auch nicht gut ausgestaltet sind. Deshalb begeistert mich unser Talentkolleg Ruhr. Da lernen hochmotivierte Kinder, die persönlich einen großen und schweren Rucksack zu tragen haben. Das Talentkolleg packt sie völlig anders an, geleitet sie durch die Schulzeit. Wir blicken dort in strahlende Gesichter, weil andere Ressourcen vorhanden sind und weil anders miteinander gearbeitet wird. Schade, dass so eine Einrichtung nicht flächendeckend im System ankommt. Ich habe das Gefühl, dass unser Schulsystem heute für niemanden mehr wirklich passt. Nicht für die Kinder, nicht für die Lehrer und auch nicht für die Eltern. In einem Land, das ausschließlich von Bildung lebt, ist das ein Armutszeugnis.

Ruhrwerk: Vor wenigen Tagen wurde Ihrem Dezernat der neue Arbeitsbereich Integration zugeordnet. Was versprechen Sie sich von diesem Schritt?

Andreas Merkendorf (AM):  Migration ist nicht Integration, diese Begriffe – das ist mir wichtig – dürfen nicht verwechselt werden. Es gibt nur einen einzigen Weg, um Menschen zu integrieren: Bildung. Auch da haben wir ein großes Defizit. Integration muss so früh wie möglich anfangen. Was ich spielend lerne, habe ich drin. Das gilt für Sprache, aber auch für den Umgang miteinander. Dafür brauchen wir gute Bildungssysteme, gute Schulen, kulturelle Angebote, aber auch den Sport. Kinder, die tagsüber schwitzen, machen abends keinen Mist. Dabei geht es nicht allein um körperliche Aktivität, sondern auch um das Vereinsleben. Angesichts der Nothaushalte, die überall gefahren werden, habe ich die große Sorge, dass im Ruhrgebiet die Probleme anwachsen, wenn es darum geht, Bildung und Integration positiv zu gestalten. Ich warne in Düsseldorf ständig davor, dass in diesem Zuge ein Ruhrgebiet mit rund sechs Millionen Einwohnern entstehen könnte, in dem nichts mehr reibungslos funktioniert. Es wirkt so als schauten alle über das Ruhrgebiet hinweg.

Ruhrwerk: An der Max-Wiethoff-Schule in Sodingen ist im September das Projekt „Lernen neu denken“ mit zwei dritten Klassen gestartet. Finanziert wird das Projekt, das außerschulisches Lernen im Wald, beim Einkaufen oder in der Küche ermöglicht, aus Spenden. Wie ist Ihre Meinung zu solchen Ansätzen?

Andreas Merkendorf (AM):  Ich finde es toll, dass es solche Projekte gibt. Alle profitieren davon: die Kinder, die Eltern, die Lehrer. Ich würde mir jedoch wünschen, dass wir ein solches Angebot flächendeckend hinbekämen. Es ist doch Aufgabe des Staates, außerschulisches Lernen in dieser Form für alle zu finanzieren. Wann immer wir in Düsseldorf unsere handfesten Probleme beschreiben, dringen wir nicht durch. Ich habe den Eindruck, dass dort viel zu abstrakt gedacht wird. Wir müssen die Düsseldorfer Kolleginnen und Kollegen unbedingt mal nach Herne einladen und sie in eine Schulklasse mit 33 Schülerinnen und Schüler setzen, von denen 30 nicht Deutsch als Muttersprache haben. Da sieht die Welt am Rhein plötzlich ganz anders aus.

Ruhrwerk: „Lernen neu denken“ ist nur eines von vielen Projekten, dem sich der Verein Ruhrwerk seit mehr als zehn Jahren widmet. Welche Bedeutung hat für Sie bürgerschaftliches Engagement für bessere Bildungschancen?

Andreas Merkendorf (AM):  Die Arbeit von Ruhrwerk ist fantastisch. Dafür gibt es drei Gründe: Dank Ruhrwerk fließen Ressourcen ins System – personell, aber auch in Form von Geld für Projekte. Das ist einmalig. Nur Ruhrwerk schafft es, das Bildungssystem und seine Herausforderungen mit der Herner Bürgerschaft zu verknüpfen – mit Unternehmerinnen und Unternehmern, mit Menschen, die entscheiden können. Es ist so wichtig, dass Ruhrwerk immer wieder sagt: Hier brennt’s. Kommt mit, wir zeigen es euch. Und drittens: Bei der tollen Ruhrwerk-Gala geht es nicht ums Feiern, sondern um Bildung. Ruhrwerk sagt: Schulen, wir lassen euch nicht allein. Ich kenne keine andere Institution, die sich auf diese Weise so um Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit in unserer Stadt kümmert. Diese Öffnung in die Gesellschaft hinein ist ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Ohne Ruhrwerk kann ich mir das Herner Bildungssystem gar nicht mehr vorstellen. Ruhrwerk macht die kreativsten Dinge – immer mit Herz, Verstand und Konzept. Ich kriege immer Gänsehaut, wenn ich das sehe, und die Schulen spiegeln es uns auch. Das ist kein Strohfeuer. Ruhrwerk ist einfach da – mit Haut und Haar und dem Bekenntnis: So ist die Situation, das sind die Kinder, die wir haben, und wir arbeiten mit ihnen, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen, wir geben nicht auf. Deshalb ist Ruhrwerk für mich das Label für gute bürgerschaftliche Unterstützung für Schule und Bildung. Als Bildungsdezernent unserer Stadt kann ich dafür nur Danke sagen.

Ruhrwerk: Herr Merkendorf, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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